Interview

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Eugen Mahler, Ausschnitte aus dem Gespräch mit Joachim Perner (1986)

„Ich such’ was, was ich gern möcht’, aber noch nicht weiß – und nicht finden kann.“

Perner: Sie haben Ihre Hamburger Ausstellung im Sommer vergangenen Jahres Tagesreste genannt. Das hat mir viel zu denken gegeben…

Mahler: Die Tagesreste sind Fundsachen; sie sind nicht gesucht, sie sind gefunden worden. Ich mache mich auch nie auf den Weg, um für die Kunst etwas zu suchen. Umgekehrt komme ich von keinem Ferienaufenthalt, von keiner Wanderung und von keiner Faltbootfahrt zurück, ohne eine Menge gefundener Gegenstände mit mir zu führen. Ins Auge fallen dann z.B. Federn, Pflanzenteile, Skelettreste, Gebrauchsgegenstände. Ein Tagesrestobjekt, das ich Ferientriptychon genannt habe, enthält 1qm Strandgut. Tagesreste nannte ich dann meine Arbeiten in Anlehnung an Freuds Traumlehre, wobei Träume ja bekanntlich von bestimmten „Tagesresten“ ausgehen als Anreiz für die Traumbildung und für die Traumarbeit. Der jeweilige Tagesrest ist dabei kein reiner Zufall im üblichen Sinne, denn wenn er selbst sich auch scheinbar jeder Deutung entzieht, so dient er doch als Auslöser für ein unbewusstes Thema, das den Träumer gerade beschäftigt. Der Tagesrest dient zum Anreiz für die Traumbildung und für die Traumarbeit, und die materiellen Tagesreste und Fundstücke werden bei mir ja auch jeweils bearbeitet, mit anderen zusammengefügt zu einer neuen Realität gleichsam.

Herr Mahler, sie sind ja, als praktizierender Psychoanalytiker, Wissenschaftler und Künstler. Wie gelingt es Ihnen, diese beiden Welten in sich zu vereinen?

Was mich betrifft, so habe ich den Eindruck, dass mein Interesse für Kunst und für Naturwissenschaft zunächst einmal etwas nicht so grundsätzlich voneinander Getrenntes und Verschiedenes ist. So ist z.B. von mir aus dem Vorschulalter der Satz verbürgt: „Ich such‘ was, was ich gern möcht‘, aber noch nicht weiß – und nicht finden kann.“ Dies hört sich nun nach angestrengter Suche an, ist aber wohl nicht so gewesen. Es war vielmehr eine Neugier, die sich auf alles richtete.

Ihre Arbeiten stehen ja eher in der Tradition des Surrealismus und Dadaismus, sind fast eine Synthese aus beiden. Die Schuhe, die hier gegenüber an der Wand hängen könnten von Dali gemacht sein.

Die Schuhe Mit dem gefundenen Stiefel, die hier gegenüber hängen, sind ein Objekt, das ich aus dem alten, im Wald gefundenen Stiefel, den ich vorher erwähnte, 1962 gemacht habe. Der Stiefel war mit Flechten und Moos überzogen und sah für andere ekelhaft aus. Ich zerlegte ihn in seine Einzelteile. Es war ein alter handgearbeiteter, zwiegenähter Lederstiefel. Ich bin den Nähten nachgegangen, ich habe Verschiedenes ein- und ausgeschnitten und auf die Leinwand gebracht. Zusammen mit den anderen leichten Kindertanzschuhen sieht das Objekt für mich jetzt auch aus wie ein Zyklopenkopf oder wie der Kopf des Ungeheuers von Loch Ness. Die ursprünglichen Fundstücke geraten in Zusammenhänge, die man mit dem Surrealismus in Verbindung bringen könnte.

Beinhaltet andererseits Kunst nicht überhaupt ein psychotisches Moment? Ich komme darauf, weil Freud in seinem Unbehagen in der Kultur ja die Frage stellt, ob nicht unsere Kultur, womöglich die ganze Menschheit, neurotisch sei, und ich denke, dass wir das Fragezeichen heute ruhig weglassen dürfen.

Freud hat – wohl nicht ganz ohne Selbstironie – einmal festgestellt: „Wer eine milde Form einer Zwangsneurose verinnerlicht hat, dem kann in dieser (bürgerlichen) Welt nichts mehr geschehen.“ Für diese Auseinandersetzung mit der „milden Zwangsneurose“ stehen die tausend Leitzordner, in denen ich akribisch und jahrelang unter ästhetischen Gesichtspunkten Nonsens geordnet habe, während eine unüberwindbare Abneigung es mir unmöglich macht, Ordner nach vernünftigen und für das Leben, die Praxis, die Wissenschaft und die Steuer unerlässlichen Prinzipien zu ordnen.

Ich stelle also mit endloser Geduld und Lust Para-Ordnungen her, während ich die verlangte, ordentliche Ordnung verweigere. Bis zu einer Ausstellung Mitte der 60er Jahre in Frankfurt/Main-Höchst funktionierte dieses Prinzip. Wo immer ich war und arbeitete, neben der selbstverständlich zu erledigenden normalen Arbeit, konnte ich unbemerkt aber stets auch meine Nonsens-Kunstordnung in Leitzordnern herstellen, ohne dass jemand darauf aufmerksam geworden wäre.

Einer dieser Ordner hat im Kunstmuseum in Krefeld Aufnahme gefunden. Dieser hat, wie eine Reihe anderer, den Titel Meine Anschrift als Dokument. Er beinhaltet Teile der täglichen Post, die pfundweise zu Hause und an den Dienststellen eintrifft, für die ich zuständig bin. Geordnet sind die leeren Kuverts, die Deckblätter von Fachzeitschriften und anderen Zeitschriften, Reklamen, kurz alles, worauf meine Anschrift gedruckt zu finden ist. Die kleinen Teile sind nach innen zu, die größeren nach außen geordnet. Die geöffneten Ordner entfalten dann ihre ästhetischen Reize und sind in diesem Zustand an den Wänden angebracht. Einmal baute ich daraus auch einen Hochaltar, und mein ältester Sohn zelebrierte davor bei der Vernissage in einem echten, beim Trödler gefundenen Messgewand eine „schwarze Messe für den milden Zwang“.

Können, oder vielmehr wollen Sie etwas zu Ihrer eigenen Biographie in diesem Zusammenhang sagen?

Für mich selbst ist jede Arbeit zugleich auch ein Stück persönlicher Lebensgeschichte. Ich nehme an, dass dies offen oder versteckt bei jedem Künstler und jedem Werk so ist. Mit dem Tagesschächtelchen mache ich den Tagebuchcharakter deutlich. Für jeden Tag steht eine Streichholzschachtel, die ein Kunstwerk enthält. Das persönlich Biographische bleibt aber verborgen, entzieht sich also der Deutung. Gäbe ich andererseits zu jedem Schächtelchen einen Kommentar, dann würde dieser vielleicht auch vom Reiz des Kunstwerkes wegführen. Es kann mir allerdings geschehen, dass ich selbst die „Kunde“ meiner eigenen Produktion erst sehr viel später (vielleicht manchmal auch nie) entdecke. Dazu ein Beispiel: Sie sehen hier zwischen den anderen Bildern und Objekten überall auch von mir sogenannte Faltcollagen und Faltobjekte. Diese – und viele oben im Atelier gestapelte – stammen alle aus den 60er Jahren. Später habe ich die Faltungen nur gelegentlich noch als Markenzeichen benutzt oder habe mich selbst zitiert. Als „Faltkünstler“ war ich von 1964 bis etwa 1970 in verschiedenen Galerien bekannt, war darauf festgelegt, andere Arbeiten wollte man zu dieser Zeit von mir nicht haben. Oft hat man mich auf die Papier-Faltkunst der Japaner aufmerksam gemacht und meine Arbeiten damit verglichen. Das Gekünstelte der japanischen Faltkunst hat mich aber gar nicht interessiert. Alle Arbeiten lebten vielmehr von den Faltungen der einfachen, jedem bekannten Kinderfaltkörper: Schiffchen, Schwalbe, Himmel und Hölle. Aus dieser Einfalt entstand eine nicht ausschöpfbare Vielfalt. Dies ist aber im Grunde schon in jedem einzelnen Faltkörper enthalten, potenziert sich dann aber je nach Reihung, flächiger Anordnung, Kombination, Papierart usw. Die Formate gehen von 160×230 cm bis zu 10×10 cm und kleiner, wobei manche Objekte aus winzigsten Einzelfaltkörpern zusammengesetzt sind. Manche Papiere habe ich dann noch vor der Faltung von Hand liniert, gestrichelt oder gepunktet, und diese Reize spielten in die Arbeiten hinein, die sonst auch als „Artikulation des Lichtes“ bezeichnet wurden. In den alten Arbeiten sind sicher insgesamt mehrere 100.000 Einzelfaltkörper enthalten und man hat oft meine Geduld bewundert oder man hat meine Zwanghaftigkeit kritisiert. Für mich war es aber keine Frage von Geduld oder Zwang, sondern ich hatte einfach – etwas pathetisch ausgedrückt – ein mir selbst nicht erklärliches Glücksgefühl dabei.

In Ihrer Hamburger Ausstellung im Sommer 1985 hatte die Spinnstube ein besonderes Gewicht. Wie kamen Sie zu der Idee und zu dieser Ausführung?

Wie Sie sehen, leben wir an der Fulda in Morschen in der Heckenmühle, die hier seit wenigstens 1620 steht. Morschen kommt von Marsch, das heißt Sumpfgebiet, und dieses war hier überall beidseitig am Fuldaufer. Durch landwirtschaftliche Trockenlegungsanstrengungen und Drainagen sowie durch wasser- und schiffahrtsregulierende Maßnahmen ist das ganze Sumpfgebiet verschwunden mitsamt der dazugehörigen Tierwelt. So spielte noch vor wenigen Jahrzehnten hier am Wehr der Fischotter eine Rolle, und der Fischadler fütterte seine Jungen noch mit Kreuzottern, von Fischreihern und Störchen ganz zu schweigen, die sich aber nur ernähren konnten, weil es massenhaft Molche, Frösche und Kröten gab. Immerhin leben hier heute noch die Wasseramsel, der Fischreiher, der Eisvogel, die Schafsstelze, Stein- und Baummarder, Igel usw. Trotzdem fehlt uns ein Sumpf bzw. ein Teich, und es hat schon etwas Merkwürdiges, wenn man sich einen solchen am Fuldaufer künstlich anlegen muss. Wir nahmen das Wasser aus einem alten stillgelegten Brunnen auf dem Gelände. In dem Teich kam es aber im Verlaufe des ersten Sommers zu einer solchen Algenbildung, dass das ganze eben sich ansiedelnde Leben im Teich wieder zu ersticken drohte. Das üppige Wachstum war ein krankes, perverses Wachstum, und das Grundwasser ist so mit Phosphaten und Düngemitteln angereichert, dass trotz ständiger Entfernung immer mehr Algen entstanden. Ich wickelte diese zum Teil auf Latten auf, auf Latten, die eigentlich einem anderen Zweck dienen sollten. Wir behängten einen ausgedienten Schafspferch, der neben dem Teich stand. Wir hängten die Algen über einen alten Gartenstuhl. Wir achteten stets darauf, dass die Kaulquappen und Molchslarven, die Libellenlarven usw. wieder in den Teich zurück konnten, die ungebetenen Gelbrandkäfer und ihre vielen gefräßigen Larven glaubten wir dagegen bei dieser Gelegenheit aus dem Teich entfernen zu können.

Die Algenaufwicklungen und -behängungen wurden die Bestandteile der späteren Spinnstube der Undine. Es war zunächst keine künstlerische Absicht dahinter und erst recht keine fertige Idee. Diese entwickelte sich vielmehr erst schrittweise. Statt Abfallmaterial waren Tagesreste entstanden bei dieser Algenentfernungsaktion. Hinzu kam, dass die Ausstellung im Ausstellungsforum der GhK in der Menzelstraße für den Dezember (1980) unter dem Titel Tagesreste schon geplant war. Die Tagesrestgegenstände einerseits und einer der großen zur Verfügung stehenden Ausstellungsräume, die ich in schwarz halten konnte, brachten mich auf die Installation des Enviroments Undines Spinnstube. Dieses sollte ein Raum der Meditation und Trauer sein, Trauer darüber, dass das Band zwischen der Wassernixe Undine und den Menschen zerrissen ist.

Im Hauseingang gegenüber, an der großen Wand hängt ein Gral. Der Gral ist wohl das zweite Leitmotiv Ihrer Arbeit?

Im Vorraum hängt Gral Nr.1, entstanden aus den Moderresten einer alten Krankentrage, die am Fuldaufer wahrscheinlich bei Kriegsende liegengelassen worden war. Ich konservierte die Moderreste in einer Apfelsinenkiste und hängte freischwebend darin das mit Grünspan überzogene Innenstück eines alten Wasserhahnes auf und einen Glassplitter. Es soll natürlich eine Persiflage auf den Gral sein, und ich hoffe, dass sie so auch ankommt – vielleicht auch, um mit Kurt Schwitters zu sprechen, als Sinn im Unsinn.

Im Augenblick kommt es mir so vor, als seien der Wissenschaftler und der Künstler in Ihnen unabhängig voneinander auf der Suche nach dem gleichen Ziel, auf der Suche nach dem Motiv für das alte und gegenwärtige Unglück unserer Welt.

Das klingt sehr gut. Zugleich ist mir der Verlauf und der für mich unerwartete Ausgang des Interviews nun aber auch sehr peinlich, wie dies die Nähe des Grals wohl so mit sich bringt – es sei denn, man wäre selbst ein Parzival.

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